Kritische Theorie aus den Amerikas

Lateinamerika Kolloquium (Präsenz) mit Stefan Gandler

Mit: Stefan Gandler, Universidad Nacional Autonóma de México / Universidad Autónoma de Querétaro
Moderation: Ulrich Brand, Universität Wien, Forschungsverbund Lateinamerika

Das Anliegen des Vortrags ist zu zeigen, dass ein Autor: Bolívar Echeverría, ecuadorianisch-mexikanischer Philosoph (1941-2010), welcher außerhalb Frankfurts, Alemanias, Europas und – was schon fast eine Tollheit zu sein scheint – außerhalb der selbsternannten Ersten Welt geboren und zum Universitätsprofessor (UNAM) ernannt wurde, mit aller Seriosität, und die akademischen Spielregeln beachtend, als Denker verstanden werden kann, welcher für die kritische Theorie im dritten Jahrtausends bedeutenderer ist, als die meisten der altbekannten Einheimischen. Echeverría hat viele Jahre an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) gelehrt und dabei vielen Generationen von studentischen Subjekten die kritische Theorie der Gesellschaft zugänglich gemacht und geholfen, ihren philosophischen, gesellschaftlichen und historischen Kontext zu verstehen, und hat wichtige Beiträge für eine Erweiterung der Geltung der kritischen Theorie geliefert, nicht nur über den präzisen geschichtlichen Moment hinaus, in dem deren wichtigsten Texte verfasst wurden, sondern auch über die geographischen und zivilisatorischen Grenzen hinaus, in denen diese Theorie, trotz ihrer großen Offenheit in vielen Themen, bisweilen verfangen war. Diese Beschränkungen sind zum Teil unmittelbare Folge einiger Widersprüchlichkeiten und Beschränkungen der Originaltexte, die in einem ethnozentrischen Kontext verfasst wurden, der von den Autoren dieser Gruppe von Intellektuellen nie auf so entschiedene Art und Weise überwunden werden konnte, wie es notwendig gewesen wäre. Der größte Teil der erwähnten Beschränkung ist jedoch die Folge von Interpretation dieser Texte, in denen ihnen vielfach der kritische Stachel gezogen und damit auch die Fähigkeit genommen wurde, die Engstirnigkeit der europäischen und US-amerikanischen Gesellschaften zu überwinden – eine Engstirnigkeit, die immer auch einen so lächerlichen wie penetranten Ethnozentrismus mit einschließt.

Bolívar Echeverría ist einer jener Autoren, der viele Jahre lang darum bemüht gewesen ist, das Projekt der kritischen Theorie wieder aufzugreifen und es dabei nicht nur in andere Länder, sondern auch zu neuen Diskussionshorizonten zu geleiten, die eine Debatte jenseits der an vielen europäischen und US-amerikanischen Universitäten bestehenden Limitierungen einschloss. Aus all diesen Gründen scheint es uns daher gerechtfertigt und notwendig, auf diesen wichtigen Autor zurückzugreifen und sein Denken mit dem des im Instituts für Sozialforschung samt Exil entsprungenen produktiv zu konfrontieren.
Fragen wie die nach anderer Formen des verdinglichten Bewußtseins werden dabei zentral sein.

Stefan Gandler (Promotion 1997 in Frankfurt/Main bei Alfred Schmidt) ist Univ.-Professor für Philosophie und Gesellschaftstheorie. Er lehrte an verschiedenen Universitäten wie der Universidad Nacional Autonóma de México, University of California Santa Cruz, Tulane University, New Orleans, Goethe-Universität Frankfurt/Main, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und der Universidad Autónoma de Querétaro, an deren Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät er das Forschungsprojekt „Kritische Theorie aus den Amerikas“ des Nationalen Wissenschafts- und Forschungsrats (CONACYT) gründete und leitet. 2021: Bolívar Echeverría Prize, awarded biennially by the International Herbert Marcuse Society

Kategorie: Lateinamerika-Kolloquium
Datum: 18. Mai 2022, 17:00–18:30
Ort: Universität Wien, Institut für Politikwissenschaft, Universitätsstraße 7, 1010 Wien / Konferenzraum IPW (A222), NIG, 2. St.